“Russendämmerung” – ein Gespräch mit dem Autor Ilia Ryvkin
SEZESSON: Herr Ryvkin, Rußland ist nach gut 30 Jahren zurück als Endgegner Europas. Wird Ihr Buch Russendämmerung – es ist im Jungeuropa Verlag erschienen – die deutsche Rechte vom Gegenteil überzeugen?
RYVKIN: Als ich anfing zu schreiben, hatte ich nicht einmal daran gedacht. Mein Ziel war rein literarischer Natur, ein persönliches Zeugnis über die dortigen Zeitläufte abzulegen.
SEZESSION: Es handelt sich eher um einen Reisebericht durch Osteuropa. Mal anekdotisch, mal politisch, mal poetisch …
RYVKIN: Ich gebe mich nicht der Illusion hin, objektiv zu sein, nein, natürlich hat der Erzähler einen ganz eigenen Blickwinkel. Seine Ansichten würden hierzulande als patriotisch-konservativ gelten. Keine Frage. Dennoch sehe ich einen Unterschied zwischen Literatur und Propaganda, der darin besteht, daß in der Literatur, unabhängig von den Ansichten des Autors, immer eine gewisse Kluft zwischen seiner Stimme und der politischen Agenda besteht.
Dazu hatte ich beim Schreiben eine Leserschaft vor Augen, die in keine politische Nische paßt. Ich habe das Buch so geschrieben, daß meine Eltern es ihren Nachbarn zu Weihnachten schenken können.
Was den heutigen Konflikt betrifft, so muß man die Russen nicht mögen, aber vor allem die Rechten sollten merken, daß das ganze Unheil im heutigen Europa aus einer anderen Richtung kommt, nein, nicht Rußland ist der Feind Europas. Wem das noch nicht klar ist, dem habe ich auch nicht viel zu sagen.
SEZESSION: Und Sie nehmen quasi für sich in Anspruch, daß das getrennt zu betrachten ist, im Buch Russendämmerung – also da ist der Erzähler und da sind Sie als Person?
RYVKIN: Ja, es ist ein authentisches Zeugnis, ich versuche in allem, was ich schreibe, ehrlich zu sein, und nein, es ist keine Dokumentation im eigentlichen Sinne. Es ist die Widerständigkeit des Materials und die Gesetzmäßigkeiten des Genres, die es ausmachen.
SEZESSION: Was macht diese „Widerständigkeit des Materials“ aus?
RYVKIN: Daß selbst die Ereignisse, von denen ich spreche, eine solche, kaum wahrnehmbare Zweideutigkeit erzeugen. Die Geschichten aus dem Donbass könnten reine Fiktion sein, aber sie sind wahr.
SEZESSION: Mit Heimat Europa wurde 2022 – ebenfalls im Jungeuropa Verlag – ein Reisebericht Pierre Drieu la Rochelles veröffentlicht, der einige Parallelen zu deinem Buch aufweist. Mit einem Unterschied: Drieu la Rochelle bereiste ein anderes Europa, das es nun nicht mehr gibt.
RYVKIN: Auch für Drieu la Rochelle beginnt Europa in Argentinien. Seine Bemerkungen über die damalige UdSSR sind brillant, aber eher im Kontext eines westeuropäischen Diskurses über den neuen illiberalen politischen Stil zu lesen.
Ich würde einen anderen Namen nennen. Von der damaligen sowjetischen Regierung wurden „progressive“ Schriftsteller nach Moskau eingeladen. Sie fuhren mit einem Dampfer den Weißmeerkanal hinab und schrieben begeistert über die ekstatische Arbeit der Massen zum Wohle des Sozialismus. Nur einer von ihnen bemerkte, daß sich um ihn herum ein richtiges Konzentrationslager befand. Das war Louis Ferdinand Céline. Einer der Häftlinge, die den Weißmeerkanal bauten, war mein Urgroßvater, daher meine persönliche Beziehung zu ihm. Es hilft mir, daß ich die Sprache kenne, daß ich verstehen kann, was irgendeine Großmutter an der Bushaltestelle sagt.
SEZESSION: Was macht das Dreieck Minsk-Kiew-Moskau so anders als den Kosmos, in dem man sich in Berlin bewegt?
RYVKIN: Minsk ist die „europäischste“ der drei Städte. Alles ist sauber, nicht so wie in Berlin. Auch vom Phänotyp der Stadtbewohner … Darf man das überhaupt ansprechen? Kiew ist die Mutter der russischen Städte, sie hat etwas ewig Weibliches, ja sogar etwas Hexenhaftes an sich. „Die Stadt“ par excellence, wie Bulgakow sie in seiner Weißen Garde nennt.
Auch Moskau – hier spürt man den Puls der Zeit, wenn nicht politisch, dann wirtschaftlich, finanziell, kulturell. Von allen dreien ähnelt das Stadtgefühl in Berlin eher dem in Kiew. Es ist das Gefühl einer gewissen Anarchie, das berauschend ist, aber auch beunruhigend.
SEZESSION: Beunruhigend, weil Gefahr droht?
RYVKIN: Ich will nicht die Kassandra spielen.
SEZESSION: Kürzlich bezeichnete die AfD-Sprecherin Alice Weidel den 8. Mai als „Niederlage“ Deutschlands. Gleichzeitig tritt Deutschland als starker Unterstützer Kiews im aktuellen Krieg auf. Vergrößern sich die Gräben zwischen Russen und Deutschen wieder?
RYVKIN: Ja, das geschieht definitiv. Ich unterhalte mich mit Verwandten vor Ort, mit ganz normalen Menschen. Die Beziehung zu den Deutschen war bis vor kurzem trotz allem immer wie die zu einem engen westlichen Nachbarland und einem soliden Partner. Die Lieferung der Leopard-Panzer hat jedoch einen tiefgreifenden Bruch verursacht. Verständnis dafür findet man nicht mehr. Einige wurden durch die Panzerlieferung dazu motiviert, freiwillig an die Front zu gehen. Nichts ist vergessen, das ist meine Beobachtung.
SEZESSION: Und nun?
RYVKIN: Ein Donezker Intellektueller, im Buch „Dandy“ genannt, sagte mir kürzlich, daß ein souveränes Deutschland bereits ein Garant für den Waffenstillstand in der Ukraine sein könnte. Obwohl Extremisten auf beiden Seiten das Minsker Abkommen schlechtreden, hat es dazu beigetragen, daß die Beschußintensität im Donbass jahrelang relativ gering blieb. Die damalige Bundeskanzlerin hat zugegeben, daß sie diese nicht ernst genommen und nur benutzt hat, um die Ukraine zu militarisieren. Das muß wiedergutgemacht werden.
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